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Technik_Entwicklung
1942
Beschreibung

Aggregat 4 (A4) war die Typenbezeichnung der im Jahr 1942 weltweit ersten funktionsfähigen Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk. Sie war als ballistische Artillerie-Rakete großer Reichweite konzipiert und das erste von Menschen konstruierte Objekt, das die Grenze zum Weltraum – nach Definition der Fédération Aéronautique Internationale 100 Kilometer Höhe (Kármán-Linie) – durchstieß. Die A4 bildete ab Mitte 1945 die Ausgangsbasis der Raumfahrtentwicklungen der USA und der Sowjetunion.

Die Boden-Boden-Rakete A4 wurde im Deutschen Reich in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde (HVP) auf Usedom ab 1939 unter der Leitung von Wernher von Braun entwickelt und kam im Zweiten Weltkrieg ab 1944 in großer Zahl zum Einsatz. Neben der flugzeugähnlichen Fieseler Fi 103, genannt V1, bezeichnete die NS-Propaganda auch die Rakete A4 als kriegsentscheidende „Wunderwaffe“. Im August 1944 wurde sie von Propagandaminister Joseph Goebbels erstmals intern und im Oktober 1944 öffentlich zur Vergeltungswaffe 2, kurz V2, erklärt.[1] In der deutschen Presse war spätestens ab Dezember 1944 von der Fernwaffe „V 2“ die Rede.[2] Die Starteinheiten von Wehrmacht und SS nannten sie schlicht „Das Gerät“.[3]
Erste Versuche mit Flüssigbrennstoffraketen fanden von 1932 an an der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf statt.[4] Ab 1937 wurden die Versuche schrittweise nach Peenemünde verlegt. Im März 1936 hatte man für die A4-Raketenentwicklung in der dortigen Versuchsstelle folgendes Anforderungsprofil formuliert: Eine Tonne Nutzlast (Sprengstoff) sollte über 250 Kilometer bei einer Abweichung von 1 Promille (250 Meter) befördert werden.[5]

Neben dem Technischen Direktor Dr. Wernher von Braun war eine große Zahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren in der HVP tätig, unter ihnen Walter Thiel, Helmut Hölzer, Klaus Riedel, Helmut Gröttrup, Kurt Debus und Arthur Rudolph. Leiter der HVP bzw. zeitweise deren Kommandeur war Generalmajor Walter Dornberger, Chef der Raketenabteilung im Heereswaffenamt (Wa Prüf R, später Wa Prüf 11).

Die Vorgängermodelle des Aggregats 4 waren nur teilweise erfolgreich: Aggregat 1 explodierte beim Brennversuch in der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, Aggregat 2 absolvierte 1934 zwei erfolgreiche Starts auf Borkum und im Dezember 1937 hatte Aggregat 3 vier Fehlstarts. Erst der direkte Nachfolger Aggregat 5 war 1938 erfolgreich. Das Aggregat 4 wurde ab 1939 entwickelt und erstmals im März 1942 getestet. Am 3. Oktober 1942 gelang ein erfolgreicher Start, bei dem es mit einer Spitzengeschwindigkeit von 4.824 km/h (etwa Mach 4,5) eine Gipfelhöhe von 84,5 km erreichte und damit erstmals in den Grenzbereich zum Weltraum vordrang. Dies war der erste gelungene Großraketenstart der Menschheitsgeschichte. Aufgrund mehrerer Strukturversagen im Flug begannen im Juni 1944 Teststarts, welche zwecks verbesserter Verfolgbarkeit senkrecht erfolgten. Am 20. Juni 1944 wurde bei einem Senkrechtstart eine Rekordhöhe von 174,6 km erzielt. Bereits zwei Tage zuvor hatte die Rakete mit der Werk-Nr. MW 18012 eine Gipfelhöhe von etwa 127 km erreicht[6]; damit übertraf diese Rakete die heutige anerkannte Weltraumgrenze von 100 km Höhe (die Kármán-Linie) deutlich und war der erste menschengemachte Gegenstand im Weltraum.[1]:267

Am 26. Mai 1943 fand ein Vergleichsschießen mit der Flugbombe Fi 103 in Peenemünde statt. Danach fiel die Entscheidung, beide Waffen parallel weiter zu entwickeln und einzusetzen.[7] Die Flügelbombe galt als das einfachere System, das in größerer Stückzahl herzustellen, auf kürzeren Distanzen einzusetzen war und die Rakete als Hauptangriffswaffe unterstützten sollte.[8]

Nach den Luftangriffen der Royal Air Force auf Peenemünde (s. Operation Hydra am 17. August 1943) wurde beschlossen, die Ausbildung der Raketentruppen und die Scharferprobung der A4-Raketen nicht in Peenemünde, sondern in Südostpolen außerhalb der Reichweite der alliierten Bomber durchzuführen: anfangs für die westalliierten Bomber unerreichbar im Karpatenvorland auf dem SS-Truppenübungsplatz Heidelager bei Blizna im Generalgouvernement, wurden die Übungen wegen der anrückenden Roten Armee später auf den SS-Truppenübungsplatz Westpreußen in die Tucheler Heide nördlich von Bromberg verlegt.[9]

Die Bevölkerung um Blizna war dabei rücksichtslos den A4- und Fieseler-Fi-103-Einschlägen ausgeliefert. Auf Flugblättern warnte man vor Ort lediglich vor gefährlichen Kraftstoffbehältern, die aber keine Bomben seien.[10]

Am 20. Mai 1944 stellten Mitglieder der polnischen Heimatarmee Teile eines abgestürzten A4 sicher. Die wichtigsten Teile wurden zusammen mit den in Polen vorgenommenen Auswertungen in der Nacht vom 25. zum 26. Juli 1944 mit einer DC-3 der RAF, die in der Nähe von Żabno gelandet war, nach Brindisi ausgeflogen (Operation Most III). Von dort aus kamen die Teile nach London, was der britischen Regierung erstmals die Existenz einer deutschen Rakete bewies.[11]

Von Peenemünde und der Greifswalder Oie aus erfolgten noch bis einschließlich 20. Februar 1945 Versuchsstarts von A4-Raketen.

Titelbild
Aggregat 4 (V2)
Galerie

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